LeSS in der Praxis

Erfahrungsbericht und Kurzanleitung

Wie Sie mit LeSS Ihr Produkt auf das nächste Level bringen

LeSS (Large-Scale Scrum) ist ein Framework zur Skalierung von Scrum für mehrere Teams, die gemeinsam an einem Produkt arbeiten. Es basiert auf den Prinzipien und Idealen von Scrum, wie sie im Scrum Guide definiert sind. Eines der LeSS-Prinzipien lautet „Large-Scale Scrum is Scrum“ und so fühlt sich das minimale Rahmenwerk ideal an, um auch in größeren Projekten die Wertschöpfung zu maximieren und die Komplexität sowie „Verschwendung“ zu reduzieren. Dieser Blog-Artikel ist ein Erfahrungsbericht meiner ersten großen LeSS-Implementierung. Die Rahmenbedingungen im Umfeld unseres Kunden BMW waren ideal, um ein flexibles, skalierbares Setup zu schaffen, in dem ein hochmodernes und kundenzentriertes eCommerce-Produkt, der „One Shop“, entwickelt wird.

Kurz erklärt: der „One Shop“

Der „One Shop“ ist die interne Bezeichnung der modernen, skalierbaren und nutzerorientierten eCommerce Plattform für BMW-Produkte. Kunden können hierüber sowohl digitale Dienste wie Connected Drive Angebote, Accessoires wie Räder und sonstige Teile bis hin zu Servicetermin-Buchungen beziehen. Die Vision ist, den Kunden ein durchgängiges Einkaufserlebnis vom Automobil bis hin zum Schlüsselanhänger ohne Unterbrechungen und Hindernisse anbieten zu können.

Die Ausgangslage: Von Wirrungen und Bottlenecks

Nach mehreren Monaten Entwicklungszeit ist das Team rund um die Product Owner (POs) organisch gewachsen. Erfolg brachte Begehrlichkeiten und auch die Genehmigung von Ressourcen mit sich. Während das Wachstum von Scrum Umgebungen bis zu einem gewissen Maß grundsätzlich auch ohne spezielles Rahmenwerk möglich ist, stießen wir in unserem Umfeld bald an einen Punkt, an dem sich das Setup ineffizient und „träger“ anfühlte. Absprachen waren aufgrund der vielen Schnittstellen schwierig und Abhängigkeiten wuchsen. POs wurden zu Bottlenecks, da sie durch hohen persönlichen Einsatz Probleme im System ausgleichen – aber nicht beheben – konnten.

Ein neues Setup musste her, welches leichtgewichtig bleibt, flexibel ist und Skalierbarkeit ermöglicht. Die Wahl fiel nach kurzer Analyse und Abwägung auf das LeSS-Framework, da es bereits sehr viele Parallelen zur bisherigen Arbeitsweise aufwies, jedoch an den identifizierten Problemstellen direkt ansetzte.

Die Implementierung wird zur Adaption

Wie können Sie LeSS in Ihrem Unternehmen implementieren? Hier ist unsere Roadmap aus der ersten Transformationsphase im „One Shop“ sowie einige Erfahrungen und Erkenntnisse. So viel vorweg: die Implementierung des LeSS-Rahmens in unserem Produkt dauerte effektiv etwa sechs bis acht Wochen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit und sehr pauschal. Eine Einführung hängt von sehr vielen Variablen des Umfeldes ab: wie ist die Veränderungesbereitschaft? Wie viele Beteiligte? Wie groß ist der Veränderungsdruck? Gibt es agiles Vorwissen? Trägt das Management die Veränderung mit. Bei LeSS selbst spricht man anstatt von Implementierung daher eher von einer Adaption. Diese ist so zu verstehen, dass sie nie wirklich abgeschlossen, sondern lediglich immer besser wird. Diesen feinen Unterschied zu verstehen, hilft bei den folgenden zehn Schritten enorm:

 

Schritt 1 – Bestandsaufnahme und Beweggründe: Es ist immer eine schlechte Idee, ein Framework nur um des Frameworks Willen zu implementieren. Bewerten Sie den Status quo Ihres Unternehmens. Analysieren Sie die aktuelle Situation Ihres Produkts, Ihrer Teams und Ihrer Organisation. Identifizieren Sie die derzeitigen Herausforderungen und Ziele, welche Sie mit einer Transformation erreichen wollen. So schaffen Sie eine solide Basis, die auch die Teammitglieder benötigen, um den Veränderungsschritt nachvollziehen und mittragen zu können. Nutzen Sie dafür verschiedene Methoden wie Umfragen, Interviews oder Beobachtungen.

Schritt 2 – Lernrahmen schaffen und Wissen aufbauen: Die Entscheidung ist getroffen. Nun gilt es, Wissen zu sammeln. Machen Sie sich mit den Grundlagen von LeSS vertraut. Lesen Sie das Buch "Large-Scale Scrum: More with LeSS" von Craig Larman und Bas Vodde oder besuchen Sie die offizielle LeSS-Website, um mehr über die Prinzipien, Regeln und Praktiken von LeSS zu erfahren. Wissen ist ein wichtiger Erfolgsfaktor – denn auch wenn wir aus Fehlern lernen wollen, muss man ja nicht gleich jeden offensichtlichen Fallstrick mitnehmen.

Schritt 3 – Training-Sessions: Hier ist ein wichtiger Knackpunkt. Schulen Sie alle Beteiligten in LeSS. Organisieren Sie eine Schulung für alle Personen, die an dem Produkt arbeiten oder davon betroffen sind. Dazu gehören der Product Owner, die Teams, die Scrum Master und im besten Fall auch die Manager und die Stakeholder. Engagieren Sie einen erfahrenen LeSS-Trainer, der Ihnen die Grundlagen von LeSS erklärt und zum Austausch und zur Reflexion anregt. Viele Trainer bieten hier einen verkürzten zweitägigen sowie einen ausführlicheren fünftägigen Kurs an. Meine Empfehlung: Sparen sie hier nicht. Es ist ein immenser Vorteil, wenn alle Projektteilnehmer über fundiertes Wissen verfügen und ihre Fragen sowie Bedenken im Rahmen einer solchen Veranstaltung diskutieren können. Das schafft nicht zuletzt auch Transparenz und Vertrauen.

Schritt 4 – Vorbereitungen: Ob „Big bang“ oder schrittweise Einführung. Ab einem gewissen Zeitpunkt geht es los und dann müssen Vorarbeiten erledigt sein: Dreh- und Angelpunkt ist das gemeinsame Product Backlog. Da wir bereits eine gewisse Projekthistorie hinter uns hatten, mussten wir das Backlog auf die neuen Gegebenheiten anpassen. Konkret bedeutete dies den Schnitt der User Stories so zu gestalten, dass sie zu den künftigen Feature-Teams passen (bis dahin wurde eher im Komponenten-Schnitt gearbeitet). Eine wichtige Erkenntnis: Zu diesem Zeitpunkt bietet es sich an, in einem radikalen Schritt das Backlog neu aufzubauen, z.B. mit einer Methode wie „Backlog on the floor“ (Visualisierung aller Backlog Items durch ausgedruckte Karten und Ordnung sowie Priorisierung nach Wert) oder „User Story Mapping“ (komplette Neuerstellung von eines Backlogs anhand der Customer Journey). Wir hatten uns für einen laufenden Umbau entschieden und hatten dadurch noch Monate später mit den Nachwirkungen zu tun.

Schritt 5 – Kickoff: Es kommt der Moment, wenn es losgeht. Starten Sie das Projekt mit einem Kickoff-Event, um alle auf die Transformation einzuschwören. Präsentieren Sie die Produkt-Vision sowie die Ziele aus Unternehmens- und aus Kundensicht. Ganz entscheidend ist nun auch die Vorarbeit aus Schritt 1, wenn Sie die Beweggründe und Hintergründe nochmals erläutern, warum das LeSS-Framework gewählt wurde. Schaffen Sie ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Ausrichtung für alle Beteiligten. Spüren Sie die positive Energie und die hohe Erwartungshaltung bei den Teams. In der „One Shop“-Transformation sind wir bewusst und plakativ als „Lernende“ gestartet. Wir hatten einige gut informierte Projektmitglieder, alle waren geschult und somit hatten wir sicher genug Kompetenz im Team, um diesen Schritt in dieser Weise zu gehen. Jedoch macht es einen großen Unterschied, ob die Erwartungshaltung besteht, dass es einen „Kapitän“ gibt, der die Mannschaft durch die Reise lotst, oder alle in der Verantwortung sind, den Lernrahmen zu nutzen und mitzugestalten. Letzteres hat sich rückblickend als sehr wertvoll herausgestellt.

Hilfestellung zur LeSS Adaption von LeSS.works

The LeSS Company schlägt sieben Prinzipien zur Unterstützung bei einer LeSS-Adaption vor, die auch wir in unser Vorgehen – wo möglich – haben einfließen lassen.

Schritt 6 – Teams aufstellen: Die Königsdisziplin und Wert, hierzu einen eigenen Blog-Artikel zu verfassen. In kurzen Worten: Führen Sie einen Self-designing-Team-Workshop durch. Dies ist ein wichtiger Schritt in der LeSS-Implementierung, bei dem die Teams selbst entscheiden, wie sie sich aufstellen und zusammenarbeiten wollen. Lassen Sie die Teams ihre eigenen Teamnamen, Teammitglieder und Teamnormen wählen – das schafft Identifikation und macht Spaß! Die zentrale Frage ist dabei immer „seid ihr gut zu euren Herausforderungen aufgestellt, so dass ihr diese bestmöglich angehen könnt?“ Geben Sie den Teams die Freiheit und die Verantwortung, ihr eigenes Arbeitsumfeld zu gestalten – und lassen Sie sich beeindrucken, wie selbstorganisiert, kreativ, engagiert und verantwortungsvoll Ihre gut ausgebildeten Experten mit dieser Chance umgehen.

 

Schritt 7 – Lernrahmen schaffen: Das Lernen hört nie auf. Da wir uns in einem komplexen Umfeld bewegen, also dem Bereich der „unknown unknowns“ (wir wissen also noch nicht, was wir alles noch nicht wissen werden…), ist die Etablierung eines vertrauensvollen Lernrahmens für die weitere Reise entscheidend. Dies bedeutet, dass wir im laufenden Projekt regelmäßig Feedback einholten und retrospektiv überprüften, was gut lief und was verbessert werden konnte. Hilfreiches Instrument bei LeSS ist zum Beispiel das Format der „Overall Retrospektive“, bei der im Gegensatz zu den Team-Retros, jeweils Vertreter über Hindernisse und Verbesserungsmöglichkeiten in der übergreifenden Zusammenarbeit diskutieren. Dieses neue Format ist zu Beginn ungewohnt, da eigentlich aus jedem Team nur Vertreter entsandt werden. Eigentlich deshalb, weil gerade zu Beginn beinahe alle Teammitglieder an der Retro teilnehmen, was in Sachen Effizienz eine „gewisse Herausforderung“ für den Scrum Master darstellt.

Schritt 8 – Begleitendes Coaching: Coachen Sie die Teams während der gesamten LeSS-Implementierung. Helfen Sie ihnen bei der Anwendung von LeSS-Praktiken wie Sprint Planning, Daily Scrum, Sprint Review und Sprint Retrospective. Unterstützen Sie sie auch bei der Lösung von Konflikten, der Förderung von Selbstorganisation und der Verbesserung ihrer Zusammenarbeit.

Schritt 9 – Messen Sie die LeSS-Implementierung: Überprüfen Sie regelmäßig, wie gut die LeSS-Prinzipien in der Praxis umgesetzt werden. Nutzen Sie verschiedene quantitative und qualitative Indikatoren wie Velocity, Cycle-Time, Kundenzufriedenheit oder Mitarbeiterzufriedenheit. Welche Kennzahlen Sie verwenden, sollten Sie im Team selbst erarbeiten, da sie somit genau das untersuchen, worauf es Ihnen ankommt – und die Akzeptanz steigt enorm, da es sich nicht wie eine Überwachung, sondern eher wie eine Unterstützung durch objektive Daten anfühlt.

Schritt 10 – Feiern: Wenn Sie an diesem Punkt angekommen sind, sollten Sie spätestens zur Grillparty oder zumindest zum Remote-Event einladen. Erfolge werden oft zu selbstverständlich hingenommen, es steckt jedoch eine enorme Anstrengung und geistige Flexibilität hinter diesem Transformationsprozess. Klopfen Sie sich und Ihren Teams regelmäßig auf die Schulter und erkennen Sie die Leistungen an.

Kurz erklärt: LeSS

LeSS steht für Large-Scale Scrum und ist ein Framework zur Skalierung von Scrum für mehrere Teams, die gemeinsam an einem Produkt arbeiten. LeSS ist kein neues oder komplett „anderes“ Framework, sondern eine Erweiterung der Scrum-Praktiken für größere Gruppen. Es wurde im Zuge von mehr als 600 Experimenten entwickelt und in dem Buch „Large-Scale Scrum: More with LeSS“ von Craig Larman und Bas Vodde näher ausgeführt. Die Autoren haben LeSS auf der Basis ihrer jahrelangen Erfahrung als Framework für die Wertschöpfung bei gleichzeitiger Reduzierung von Komplexität und Verschwendung definiert.

 

LeSS ist ein minimales Framework, das – ebenso wie Scrum – nur das Nötigste vorgibt und viel Raum für Anpassung lässt. Ziel ist es, die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens zu maximieren, das heißt Anpassungen möglichst schnell und mit möglichst geringen Kosten vornehmen zu können, um den Kundennutzen zu maximieren.

 

Es besteht aus zehn Prinzipien, die den Nutzen, die Elemente und den Gesamtzweck von Scrum auf ein großes Unternehmen übertragen. Es gibt auch einige Regeln und Leitlinien, die Anleitungen zur Implementierung und Ausführung von LeSS geben. Außerdem gibt es viele Experimente und Erfahrungen, die als Inspiration für die kontinuierliche Verbesserung dienen.

Rückblick und Erlerntes

Die beschriebenen Schritte hatten wir innerhalb von etwa acht Wochen durchlaufen. Dann geht die Lernreise jedoch erst richtig los. Zur Wahrheit gehört auch, dass nicht immer alles glatt läuft und im Team nur LeSS-Fans herumlaufen. Meine persönlichen, wichtigsten Erkenntnisse waren:

 

  • Baut das Backlog gemeinsam und bereits zu Beginn der Transformation fertig um. Wir hatten immer wieder Detaildiskussionen, gerade im Refinement und Planning, die zum Teil vermeidbar gewesen wären.
  • Präsenz ist King… Das LeSS-Framework ist ausgelegt auf Zusammenarbeit vor Ort. Unser Setup hat das nicht hergegeben. Aber gerade Kommunikation – „just talk“ ist ein wichtiger Grundsatz von LeSS – ist so viel einfacher im Büro oder an der Kaffeemaschine. Wir nutzten das virtuelle Office von Teemyco (Kommunikationssoftware wie MS Teams, allerdings mit visueller Darstellung eines virtuellen Büros, in dem alle Anwesenden sich einfach in einem Raum einfinden und wieder wechseln können) um die Kollaboration im Team für Austausch und Pair-Programming-Sessions zu erleichtern.
  • Es braucht Zeit. Auch eine LeSS-Adaption ist letzten Endes ein Change-Projekt, das mehr oder weniger der berühmten Veränderungskurve folgt (siehe Grafik unten). Diese sollte man immer im Hinterkopf haben und nicht zu schnell zu viel wollen. Rückschläge und Frustration gehörten genauso mit dazu wie die Erfolge und positiven Erlebnisse aus Meetings mit unglaublich motivierten Teams.
Veränderungskurve bei der Einführung von Neuerungen in sozialen Systemen.

Wenn Sie nun neugierig sind und ein ähnliches Umfeld haben, in dem sie mit mehreren Teams einen einfachen Kollaborationsrahmen benötigen, um ein großartiges Produkt zu entwickeln, sprechen Sie uns gerne an. Gemeinsam finden wir heraus, welches Setup für Ihren Erfolg am besten passt – ob nun Scrum, LeSS oder SAFe.